Der Jahres-Zeiger Schreib-Kalender von Christoph Richter (1618 - 1680)
<1> Die in Leipzig gedruckte Reihe des "Jahres=Zeiger Schreib=Kalenders" ist eine von drei Kalenderreihen, die der Pfarrer Christoph Richter (1618-1680) herausgab. Nach dieser 1655 begonnenen Reihe folgten 1658 der "Gesprächs=Kalender" und 1659 der unter dem Pseudonym "Jeremias Graf" verfaßte "Haußhaltungs Kalender".
<2> Das Kalendarium des "Jahres=Zeiger Schreib=Kalenders" bringt neben den üblichen Spalten für einen jeden Monat am Anfang eine Aufzählung von mehreren "denckwürdigen" Ereignissen, darunter die zu erwartenden besonderen astronomischen und astrologisch bedeutsamen Phänomene sowie ausgewählte "Secular-Historien", das sind hundertjährige Geschichten. Gegenüber den Kalenderreihen zahlreicher anderer Verfasser zeichnet sich diese u. a. dadurch aus, daß die astronomischen Angaben (sowohl im Kalendarium als auch im Prognostikum) über das übliche Maß hinausgehen, z. B. bezüglich der Planeten, deren Positionen in einer Extraspalte auf den Verso-Seiten des Kalendariums genannt werden und deren Sichtbarkeit im Prognostikum im so bezeichneten "Lustspectackel" auf mehreren Seiten beschrieben wird. Die Recto-Seiten des Kalendariums enthalten neben der Schreibspalte eine Textspalte, die ab dem zweiten Jahrgang für einige Jahre überschrieben ist mit " Etliche wunderseltzame Historien/ auß Frantzösischer Sprache in die Deutsche übersetzt und beygefüget/ umb die Kalender=Vnlust zu vertreiben" (Jg. 1656). Bemerkenswert ist, daß Richter hier als Übersetzer französischer Literatur, die er jedesmal angibt, auftritt. Richter merkt an, daß er 300 solcher Historien gesammelt hat, die in die Kalender einfließen (1661 ließ er diese Historien in einem gesonderten Band anonym drucken).
<3> Im zweiten Teil, dem Prognostikum, folgen zunächst für die Jahre 1655 bis 1659 und 1668 das Widmungsschreiben. Dieses bzw. das erste Kapitel oder die ab Jg. 1672 gesetzte Vorrede an den Leser erstreckt sich über mehrere Seiten und wird von Richter genutzt, um einerseits astronomisches Basiswissen zu vermitteln (z. B. über die wahren Bewegungen der Erde) und andererseits seine Positionen bezüglich der in den Kalendern anzutreffenden abergläubischen Inhalte darzulegen. Richter hält sich an die Regel, daß er astrologische Vanitäten, das Abergläubische und schließlich alles, was der Vernunft zuwiderläuft, vermeidet, jedoch die auf astronomischem und erfahrungsgemäßem, d. h. natürlichem Grunde stehenden astrologischen Mutmaßungen (z. B. die allgemeinen zum Wetter) beibehält. Für die traditionellen Kapitel von den Jahreszeiten mit der Untergliederung in die einzelnen Monate und von den Finsternissen errechnet Richter die astronomischen Angaben selbst (nach Kepler und Brahe). Er verweist von Anfang an auf die Fehlerhaftigkeit der vorliegenden Ephemeridenwerke (Argoli, Eichstädt, Hecker) und auf die Unvollkommenheit der astronomischen Tafeln. Die astronomische Unwissenheit derjenigen zahlreichen Kalendermacher, die aus diesen Werken nur blind abschreiben, wird gegeißelt. Im obligatorischen Kapitel mit den Kriegsprophezeihungen hebt Richter stets seine dazu ablehnende Haltung hervor. Er nutzt dieses Kapitel gelegentlich, um gegen das Nachlassen der Frömmigkeit und die Zunahme der Ungerechtigkeit unter den Menschen anzuschreiben sowie über aktuelle politische Entwicklungen zu informieren. Höhepunkt der permanenten Kritik an der von anderen Kalendermachern praktizierten Weise zu prophezeien ist die sechs Seiten umfassende Vorrede im zweiten Teil für 1675, in der Richter nicht nur die Namen der kritisierten Kalenderstümpler nennt, sondern auch an ausgewählten Zitaten aus deren Kalendern die Unsinnigkeit bestimmter astrologischer Mutmaßungen nachweist. Bemerkenswert ist ferner die in diesem Zusammenhang eingeflossene autobiographische Darstellung. Auf Richters Vorrede reagierte wiederum der Astronom und Kalendermacher Gottfried Kirch in einem Schreiben an Richter. Hochbedeutsam ist, daß Richter in seinem Kalender für 1676 dieses Schreiben, in dem Kirch die Gründung einer Astronomischen Gesellschaft vorschlägt, auszugsweise wiedergibt. Damit wird ein Beispiel dafür geliefert, daß ausgewählte Kalender auch als Medium für gelehrte Kommunikation gelten können.
<4> Ein besonderes Kennzeichen dieser Kalenderreihe ist, daß der zweite Teil neben den traditionellen Kapiteln auch solche mit ausschließlich astronomischen Inhalten bietet, beispielsweise das umfangreiche Kapitel vom " Lustspectackel". Darin beschreibt Richter die Sichtbarkeit der Planeten und weist auf die Verwendung astronomischer Beobachtungsinstrumente hin. Weiterhin zeichnet sich diese Reihe dadurch aus, daß in ihr verschiedene Sachverhalte der Religiosität thematisiert werden, zum Beispiel die nachlassende Frömmigkeit, der aufkommende Atheismus, die Wertung des Aberglaubens als Blasphemie, die Lobpreisung Gottes im Sinne der Physikotheologie und die baldige Erwartung des Jüngsten Gerichts. Indem ferner mehrfach die Vernunft als Entscheidungskriterium über die Zulässigkeit astrologischer Mutmaßungen angeführt wird (der "vernünftige" bzw. "verständige" Leser wird schon wissen, was davon zu halten sei) und z. B. im Kalender für 1674 zwischen " erscheinender" und "wesentlicher" Wahrheit unterschieden wird, fördern die "Jahres=Zeiger Schreib=Kalender" die Ausbildung eines kritischen und selbständigen Denkens der Leser.
<5> Nach Richters Tod wurde die Reihe von Gottfried Kirch (1639 - 1710) fortgeführt, ohne daß dieser auf dem Titelblatt als Verfasser ausgewiesen wurde. Kirch nimmt die inhaltlichen Intentionen Richters auf und weitete einerseits die Kritik an der zu Übertreibungen neigenden astrologischen Praxis so mancher Kalendermacher und andererseits die Beschreibung astronomischer Phänomene aus.
Stand: 24.11.2008
Verfasser: Dr. Klaus-Dieter Herbst
E mpfohlene Zitierweise:
Klaus-Dieter Herbst: Der Jahres-Zeiger Schreib-Kalender von Christoph Richter (1618 - 1680). URN: <nbn:de:gbv:27-20090219-100952-3> [24.11.2008], Absatz <...>. (Datum des letzten Besuchs dieser Seite)