- A-Z
- Jenaische Zeitung :...
- 239. Jahrgang
- September
- Nr. 211 : Sonntag, ...
- [Auguste Rodin]
- Mentioned person
- size
-
2. Blatt
- abstract
-
Treffende und beherzigenswerte Worte hat Rodin, der Ehrendoktor der Universität Jena, über die Kunst von heute geäußert, und zwar in einem Gespräch, das er jüngst in Paris mit dem amerikanischen Schriftsteller Herm. Bernstein führte. „Ich glaube,“, sagte er, „daß die Kunst vor allen Dingen Geduld und Beharrlichkeit erfordert, aber heutzutage wollen die jungen Leute in der Kunst zu schnell vorwärts kommen. Sie nehmen sich nicht Zeit genug, sich selbst kennen zu lernen. Die Jugend strebt um jeden Preis nach Originalität oder nach dem, was sie dafür hält; aber gezwungene Originalität hat keine Existenzberechtigung! Der rechte Künstler baut sein Werk auf der Natur auf, und dann flößt er ihm erst seinen eigenen Geist ein. Viele junge Leute laufen dagegen ins Museum, sehen schnell eine Anzahl Kunstwerke an und sagen sich darauf: „Jetzt haben wir uns selbst gefunden, wir haben nun unsere Seele entdeckt und werden etwas neues schaffen!“ Vielleicht haben sie tatsächlich eine Seele; aber dann ist es die Seele eines Diebes! Man kann kein perfekter Künstler in ein paar Tagen werden. Zur Kunst gehört eine enorme Portion Geduld und harte Arbeit. Der Künstler, der die Frauen zu leidenschaftlich liebt, ist verloren! Du kannst nicht zwei Leidenschaften zugleich dienen, Du kannst nicht der Kunst dienen und zugleich dem Weibe! Und dabei glaubt man gewöhnlich, daß der Künstler seine Inspiration dem Feuer der Liebe verdanke. Ach, das ist eine alte, romantische Idee, die keinen Sinn hat. Sie treibt einen jungen Menschen von 20 Jahren dazu, ein Marmorbild aus dem Delirium seiner nächtlichen Phantasie zu schaffen. Und das ist Unsinn. Alles, was in Uebereilung und in einem Stadium der Erregung geschaffen wird, sollte zerstört werden! Lombrofs und andere, die sich einbilden, daß Genie an Wahnsinn grenze, irren durchaus. Genie ist personifizierte Ordnung. Ich bin kein Träumer; ich bin eher ein Mathematiker. Meine Skulpturen sind gut, weil sie geometrisch korrekt sind. Ich leugne nicht, daß ich bewegt bin, wenn ich schaffe; aber das gilt nur der Schönheit der Natur, die ich nachbilde. Ich bewundere die Natur, und ich finde sie so vollendet, daß ich, wenn Gott mich fragte, ob ich etwas anders haben möchte, antworten würde: „Alles ist vollendet, und nichts soll geändert werden!“ Die Leute haben mir oft vorgeworfen, ich hätte erotische Skulpturen gemacht. Aber ich habe niemals ein Werk wegen des erotischen Elements geschaffen. Die meisten Menschen verstehen das nicht, weil sie überhaupt nicht wissen, was Skulptur ist, und weil sie in ihr nur philosophische und literarische Ideen suchen: Skulptur ist die Kunst der Formen. Ich habe menschliche Körper in verschiedenen Formen geschaffen, in verschiedenen natürlichen Formen, und die Natur ist immer schön. Wenn sie uns bisweilen häßlich erscheint, so kommt das nur daher, daß wir sie nicht verstehen. Und wie viele Künstler entstellen die Natur, indem sie versuchen, sie auszulegen. Auf die Frage, ob er Tendenzen in der modernen Kunst beobachtet habe, von denen er sich einen Fortschritt verspreche, antwortete Rodin: „Ich denke, daß die Eigenart unserer Epoche eine zunehmende Aufrichtigkeit ist, und die Zukunft der Kunst hängt von der Aufrichtigkeit ab. Man hat viel geredet über neue Richtungen in der Kunst, über die „Futuristen“ und andere. Aber sie existieren nicht. Alle diese neuen Stile sind kraftlos und paradox.“
- rubric
- Kunst und Wissenschaft
- Rubriken Kunst
- 1912